Mittwoch, 27. Juni 2007
Tren Blanco
Orte, an die mich mein Dickschädel führt, Teil 4328:
Jetzt also José León Suárez, ein Elendsviertel am Nordrand der Stadt.
Seitdem ich zum ersten Mal Cartoneros gesehen habe, wie sie ihre Karren durch die Innenstadt schieben und Altpapier und Plastik sammeln, wollte ich wissen, wer
diese Leute sind und wie ihr Geschäft funktioniert. Vor allem wollte ich in einem "Tren Blanco" mitfahren. Das sind alte, vollkommen ausgeweidete Züge ohne Sitze, Fenster und Licht, die nachts die Cartoneros mit ihrer Beute zurück in die Slums fahren. Nach fruchtlosen Verhandlungen mit der Stadtverwaltung und ebenso fruchtlosen Versuchen von Kollegen, mir das auszureden, war es dann gestern soweit. Ich nahm den Vorortzug nach San Martín. Und fand dort die traurigste Kooperative der Welt. Eine Lagerhalle voller Maschinen zum Pressen, Schreddern und Säubern von Plastikmüll, die den Wert beim Weiterverkauf an die großen Recyclingfirmen steigern. Leider fehlt das Werkzeug, um die Maschinen in Gang zu setzen. Und es fehlt an Bargeld, um Werkzeug auszuleihen. Der Lastwagen ist seit zwei Wochen kaputt, also kann auch der von über 500 Cartoneros zusammengesammelte ungepresste Müll nicht mehr weggebracht werden. Allmählich bleiben die Kunden aus. Jeder Tag, an dem kein Bargeld rumkommt, erklärte mir Mirta, die mit ihren Söhnen die Kooperative gründete, um aus dem Abfall ein bisschen Geschäft zu machen, bedeutet Hunger. Also müssen jetzt wieder die Söhne, Töchter,Nichten und Neffen ran zum Sammeln. Jeden Tag mit dem Karren zum Zug in die Innenstadt, die Müllsäcke am Straßenrand durchwühlen, in Supermärkten und Restaurants nach Abfall fragen. Und nachts wieder zurück nach Hause.
Wo "zu Hause" ist, zeigte sie mir auch: José León Suárez. Endhaltestelle des Vorortzugs nach Norden. Und überhaupt Endhaltestelle.
Ein dreckiger Bach, in dessen Böschung Müll und Fäkalien geschmissen werden, daran entlang eine endlose Reihe von Verschlägen und Hütten aus Holzbrettern, Plastikplanen und Wellblech. Ein paar schrottreife Autos, magere Köter. Und überall Kinder, Kinder, Kinder. Die im Müll spielen, im Dreck liegen, an einem alten Stück Brot kauen, 13jährige Schwangere. 30jährige Frauen ohne Zähne im Mund, die beim Stillen rauchen. Jungs mit tausendmal geflickten Turnschuhen mit irren Augen vom Crack. Mädchen mit zerschlagenen Gesichtern. Es gibt zwar zwei Schulen, aber fast niemand beendet die Grundschule: Alle müssen Geld verdienen, Heiligenbildchen oder Aufkleber in den Zügen verkaufen, betteln, Kartons sammeln.
Mirtas Tochter ist ungefähr in meinem Alter, sieht aber älter aus als ihre 60jährige Mutter. Sie lebt mit ihren 11 Kindern zwischen 17 Wochen und 19 Jahren in einem Haus mit Telefon, Kühlschrank und einem Bad, das vom ganzen Block benutzt wird. Der deprimierenste "Gemüseladen", den ich je gesehen habe: Fünf Mandarinen, ein paar Avocados und Kartoffeln.
Für den Rückweg nötigte mir Mirta ein Taxi auf. "allein gehst du mir hier keine fünf Meter". Sie weigerte sich, mich im Tren Blanco mitfahren zu lassen, weil sie niemand fand, dem sie mich anvertrauen konnte. Schlließlich trafen wir Nony an, eine sehr dicke Frau, die so etwas wie die Mutti des Tren Blanco ist. "Delegierte" für die Sicherheit, Respektsperson und seit über 10 Jahren im Geschäft.
Die traf ich heute. Und fuhr, dicht an ihrem breiten Rücken, mit. Der Zug hatte Gitter statt Fensterscheiben, kein Licht und durch den verrosteten Boden konnte man die Gleise sehen. Etwa 500 Cartoneros standen mit ihren Karren wie die Sardinen, bei der Rückfahrt ist es wohl so voll, dass sie sich auf die beladenen Wägen legen müssen. Es stank nach Kiff, billigem Fusel, Klebstoff und altem Müll. "Hey, Periodista, hast du jetzt genug gesehen?", schrie mir ein Typ nach, als ich nach einer Stunde ausstieg. Es ist ja wahr: Was haben die von einer Reportage, die irgendwo in einer deutschen Zeitung erscheint, oder auch nicht? Mehr als eine Spende für die Kooperative ist es nicht geworden.

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