Freitag, 25. Mai 2007
Independencia
Heute Unabhängigkeitstag. Um zehn Uhr früh hätte man per TV einer Messe in der Kathedrale von Córdoba beiwohnen können, mit dem Präsidenten und viel Feierlichkeit. Aber no, gracias. Lieber ausschlafen und fasziniert einen völlig ungewöhnlichen Zustand beobachten: Überall hängen blau-weisse Fähnchen, fast keine Autos auf den Strassen, in der Subte entspannte Menschen, die sitzen. Überall Familien mit Kindern und Paare, die Händchen halten, streiten oder gemeinsam riesige Mengen Fleisch oder das Unabhängigkeitstagsgericht Locro, so eine Art Eintopf, verdrücken. Feiertag.

Auch ich habe mich von einer sympathischen dicken Wirtin zum Tagesgericht überreden lassen, zwei riesige Fleischbrocken mit Bratkartoffeln und einem Feigen-Salat-Blatt. Jetzt sitze ich in der Zeitung und bereue: Das Fleisch, die fettigen Kartoffeln, den Apple Martini, den ich mir gestern nach und die Biere, die ich mir waehrend des Kevin Johansen-Konzerts reingepfiffen habe.
Was sehr schoen war, das Konzert. Ein in Alaska und Buenos Aires aufgewachsener David Byrne, der Cumbia mit Bossa Nova, den Beatles und ein wenig Serge Gainsbourgh mischt, einmal kräftig schüttelt und dann mit Querflöte, Saxophon, Mundharmonika und Conga serviert. Dreisprachig, versteht sich. Aber es hätten auch ein paar Balladen weniger sein dürfen.
In der Zeitung werden heute Labber-T-Shirts statt Krawatten getragen, die Chili Peppers dudeln leise. Und für mich ist ein Fax vom Finanzamt angekommen. Vielleicht gleich wieder heim, Decke über den Kopf und die Nationalhymne hören. Oder vielleicht ist dieser Tag der richtige, um mal in eine Milonga zu gehen. Es gibt zwar doch einen Unterschied zwischen Melancholie und Magenschmerzen, aber im Endeffekt kommt es wohl auf das Gleiche raus.

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Mittwoch, 23. Mai 2007
Arte
Konsumkritik: groß in Mode auf der Arte BA, meese-artige Müll-Installationen mit gekrakelten Botschaften. Leider auch in unterkühlten Pastellfarben Gemaltes mit Rolltreppen oder Pflanzen. Auch gehäkelter und gestickter Ironie-Kitsch. Obwohl, die Guckloch-Mini-Disko, in der sich Grufti-Knetfiguren zu The Walk von The Cure drehten, hatte was:
"I kissed you in the water, and made your dry lips sing, I saw you look like a Japanese baby, in an instant I remembered everything."
Bei dem Versuch, meiner lieben A. ein prima Bild zur Hochzeit zu kaufen, bin ich leider ganz knapp an dem Preis gescheitert: 8.500 US-Dollar. Sorry, Darling.
Lieblinge: Fotos von Gian Paolo Minelli und eine wirklich sehr weirde Installation mit Keks-Wucherungen aus einem Auto, ausgestopften Kaninchen und aufblasbaren Geistern.


Wie ein freundliches Gespenst erschien auch wieder der pummelige Fotograf mit dem seltsamen Sexualverhalten. (Ihr erinnert euch?) Er saß mit einer vergrippten und übellaunigen Kubanerin in der Ocho-Siete-Ocho Bar bei uns um die Ecke. Mitbewohnerin H. und ich folgten den beiden auf eine Arte-BA-Party in einer sehr weißen Galerie.
Man trug Chucks und Röhre oder Leggings und Fetzenrock wie überall und hielt Ausschau nach bekannten und wichtigen Gesichtern. Durch den Champán löste sich bald jegliche Verkrampfung: die nicht mehr so vergrippte Kubanerin verschwand ins Auto, um dort ihre Grippe oral auf einen Galeristen zu übertragen, das Gespenst wirkte deshalb leicht bedrückt, tanzte aber tapfer weiter.
Und ich freue mich nachträglich über das Rauchverbot: Der Schädel hält sich in Grenzen.

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Sonntag, 20. Mai 2007
55
"Da vorn an der Ecke hält der 55er. Du brauchst den in diese Richtung". Rubén zeigte die Straße lang, wo die Stände der Feria von Mataderos aufhörten. "Krieg ich hin", sage ich, er schmatzt mir den lila Glitzer seiner Murga-Gesichtsbemalung auf die Wange und geht nach dem Auftritt noch mit den Kollegen feiern. Bus kommt, Richtung stimmt. Bus brettert über Schlaglöcher, wird immer voller. Nach einer halben Stunde kriege ich einen Sitzplatz mit Sicht aus dem Fenster. Irgendwie sieht da draußen alles so komisch aus: Die Straßen haben keine Namen mehr, der Himmel hängt voller Elektrokabel, alles ist bunt, dicht gedrängt und schäbig. Eine Villa. Hm, komische Route, die der Bus ins Zentrum nimmt. Immer mehr Passagiere ohne Zähne, immer jüngere Mütter mit immer mehr Kindern, immer größere Tattoos und dickere Muskeln. Draußen: gar nicht mehr freundlich. Scheiße. Falsche Richtung. Und die Sonne sinkt.

Da steh ich an einer Schnellstraße in der Dämmerung mit meiner Kamera in der Hosentasche, pinkeln muss ich auch. Und ein sehr bulliger Hund mit bulligem Besitzer schnüffelt an meinem Bein. Beide ohne Maulkorb, ich lächle dümmlich und versuche, ganz entspannt auszusehen. Bus kommt, nochmal die ganze Tour in die andere Richtung. Dicht vor mir ein Fußballtrikot eines mir unbekannten Vereins. Grün-blau gestreift. Der Mann der drinsteckt, hat ein Profil wie ein griechischer Gott. Wow. Ich wünsche mir größere Schlaglöcher, die ihn auf meinen Schoss fallen lassen. Ein kleines führt immerhin dazu, dass er mir auf den Fuß latscht. "Macht nix", schnurre ich. Grüne Augen! Von vorn sieht er noch besser aus. Bei der nächsten Kurve hält er sich an meinem Arm fest und entschuldigt sich wieder. Breit grinsend. Jetzt belauern wir uns von der Seite, jedesmal, wenn ich nicht rechtzeitig weggucke, zwinkert er mir zu. Ich habe völlig vergessen, wie dringend ich aufs Klo muss, von mir aus könnte der Bus jetzt noch schön bis nach Patagonien fahren. Ich überlege gerade, ob er wohl halber Schotte ist oder Norditaliener, weil seine Haare so hell sind. Rotbraun.
"Sag mal", meint er plötzlich und zieht sein Handy aus der Tasche. "Willst du mir nicht deine Num..."
An der Haltestelle drängt sich eine Riesen Menge zur Tür raus. Von vorn drücken sie nach. Er landet am anderen Ende des Busses. Immer mehr Leute, Taschen, Kinder.
An der viertnächsten Haltestelle sehe ich ihn wieder. Draußen. Er winkt und zuckt mit den Schultern.
Jetzt muss ich aber wirklich aufs Klo.

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Cucu
Warten auf Washington Cucurto, den Jungautor, der sich selbst gern El gran Cucu nennt. Dass er nicht da ist, könnte daran liegen, dass er sich mit seinem letzten Werk sehr unglücklich gemacht hat. So einige autobiographische Details, die mit blutjungen Soziologiestudentinnen, Stundenhotels und großen Lügengebäuden zu tun hatten, gefielen seiner Frau wohl gar nicht. Jetzt ist sie weg und der Autor leidet. So geht zumindest das Gerücht.
Bis er sich wieder erholt hat von den Rückschlägen seines Sexuallebens mache ich Alternativprogramm:
Eine WG, in der ein Berliner DJ, ein dänischer Künstler und ein kolumbianischer Deigner wohnen, lädt zu Street Art und elektronischer Musik. Auf der Terasse drängen sich: Kölner Doktorandinnen und Musikjournalistinnen, Stencilleros, Hipster in Leggings und Pelzmütze mit Baby auf dem Arm. Und die winzige, süße Schwester des DJs, die vor lauter Allergien und Vegetariertum nur Pizzaränder knabbern kann und am nächsten Tag zurück muss nach Göttingen. Betrinke mich mit einer weirden Fashiondesignerin und Nightlife-Königin, die alles über rosa, gelbes, kolumbianisches und peruanisches Kokain weiß. Sie schmiert ihre Handynummer auf einen Zettel.
Falls ich mal die ganze Packung Nacht aufmachen will.
Noch nicht.
Erst mal mittags Landpartie zum Restaurant "Graf Zeppelin" in Palomar. Endlose Autobahnen, Vorstadt, Vorstadt, Vorstadt. Dann Sträßchen, die nach einem deutschen Flugpionier benannt sind, Landrover mit englischen Kennzeichen in den Einfahrten, karierte Tischdeckchen im Lokal. Der Wirt ist Litauer und macht die komischsten "Weißwürste" jenseits des Äquators. Meine Nachbarin Regine isst sie trotzem mit Haut und schiebt ein Stück Schwarzwälder hinterher. Herr Wasserreich, 89, sagt zu Gulasch "Gulpopo" und singt: "Das Glück kommt in Tangoschritten, süße kleine Maus" .Seine Frau verzieht nur das Gesicht und sagt: "Jetzt wird er wieder romantisch. Nach sechzig Jahren Ehe." Der Präsident hält eine Ansprache über Kartoffelsalatrezepte, Berliner Bären und den Wunsch nach Direktflügen, BA-Berlin. Die 24jährige Tochter des Botschafters fragt den Papa bei der Rückfahrt im Auto: "Papa, was glaubst du, wie lang diese Leute da noch sitzen werden?"
Lange, mein Kind.

Endlich wieder dunkel: Besetztes Haus in Abasto voller bärtiger Ches und glutäugiger Revolutionärinnen, die an Holztischen Empanadas essen und Plena abhalten. Ein Russenlokal mit Wareniki und argentinischem Wodka. Das Orchester Hernándes Fierro, 12-Mann-Tango mit Rastas, Punkrockattitüde und einem Sänger, der mit einer Magnumflasche über die Bühne torkelt. Bei L. zu Hause argentische 80-er-Jahre-Skurrilitäten zu Wein und Käse.
Und alle, die ich morgens um sechs an den Straßenecken langkriechen sah, waren eben auch im Supermarkt.

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