Freitag, 8. Juni 2007
Melancholie
Die Stadt versinkt im Nebel, die Redaktion ertrinkt in Torten und Häppchen. Zum Tag des Journalisten gibt es eine Dankesrede von der Chefin, Champagner und ein Buffett. Im hervorragend laufenden Goethe-Institut herrscht eine typisch deutsche Grundunzufriedenheit, eine Tendenz, das Negative zu betonen, die mir auf den Magen schlägt. Betrunken vom Journalistenchampagner schleiche ich durch den Nebel zu Lenas Fotoausstellung. Düster, schön, brutal. Beim Hähnchenessen reden wir über Hysterie und Kunst. Der grösste Argentinier, den ich bisher gesehen habe (1,95) verschwindet mit seiner kleinen Freundin und Mitbewohnerin H. im Dunkel. Laura und ich fahren zu Roberto nach Almagro.
Eine winzige Holzkneipe, die so voller Leute ist, dass man die Arme zum Klatschen hochheben muss. Zwei Gitarristen spielen Stücke, die klingen wie aus der Plattensammlung meines Vaters, irgendwas zwischen Django Reinhardt und Tango. Ein weisshaariger, hagerer Mann in Schwarz erklimmt die Bühne und singt ein wenig schief, aber mit viel Gefühl. Seine kantige Eleganz und seine seltsamen Handbewegungen erinnert mich an Harald Fricke.
Der Star des Abends ist aber ein alter Herr im roten Wollpulli, der so wunderbar und traurig singt, dass die beiden Jungs, die mit uns ihre Stühle teilen, mit nassen Augen in ihr Bier starren. Der alte Mann steigt wieder und wieder auf die Bühne, jedesmal sind seine Lieder trauriger: Gebrochene Herzen, unerfüllte Versprechen, tote Freunde, Verrat und Leid. Plötzlich ist es vier, ich seufze mit Laura um die Wette. Und morgens erfahre ich, dass Harald Fricke tot ist.

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Mittwoch, 6. Juni 2007
Rituale
Morgen ist der "Tag des Journalisten". Seit Tagen schon wird die Redaktion überschüttet mit Dankes-Emails, Blumensträussen, Torten und kleinen Aufmerksamkeiten von Institutionen und Firmen. Grosses Hallo, als der Kulturchef aus einem schwarzen Spitzenbeutelchen ein paar hauchzarte Damenslips zog. Und grosses Rätselraten über die langstieligen Rosen, die mit Herzchenfolie und zu Händen der Literaturredakteurin geliefert wurden.
Auf der 17 Uhr-Konferenz geht es sehr gesittet zu. Die Ressortleiter tragen der Reihe nach ihre Themen des Tages vor, dann wirft der Fotochef potentielle Aufmacherbilder an die Wand. Am Schluss wird entschieden, was auf die Titelseite kommt. Schnell, sachlich, effizient. Keiner regt sich auf, ist beleidigt und quatscht dazwischen.
Ein weiteres Ritual: Die Asamblea, die Betriebsratsversammlung. Vorgestern hielt eine Dame mit lauter Stimme eine flammende Rede gegen die ausbeuterische Praxis des Zeitungskonzerns, heute marschierten sie zahlreich und schweigend ihrem Versammlungsort entgegen. Nur die Kultur ist zu sehr mit ihren Gratisgeschenken beschäftigt und bleibt sitzen.

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Montag, 4. Juni 2007
Montevideo
Bitterkalt ist es in Montevideo, auf der Taxifahrt vom Busbahnhof bis zum Hotel wird es dunkel. Die Altstadt ist nur von vereinzelten trüben Laternen erleuchtet, an den Strassenecken sitzen und stehen Gestalten in dicken Wollkappen und trinken Mate. Kaum Strassenverkehr, ab und zu klappert ein Pferdewagen vorbei. Wären nicht die Palmen, könnte man sich in einem viktorianischen Schauerroman wähnen.
Die Posada ist gemütlich und warm, eine kleine Kanadierin mit grosser Wollmütze bringt mir immer mehr Heizkörper, als sie meinen Zustand bemerkt: Totalgrippe.

Surreale Stadttour mit Dani Umpi und seinem Manager. Man flösst mir in einer wunderbaren Alt-Herren-Bar Schnaps mit Honig ein, der zusammen mit dem Paracetamol interessante visuelle Effekte produziert. In Technicolor gehts durch Kulturhäuser, Theater, Cafés, am Strand entlang und zu einer Chivito-Bude am Hafen. Der uruguayische Nationalburger gibt mir den Rest, abends stolpere ich mehr blind als sehend durch diverse Lokalitäten, lasse mir Cola bringen und stehe schliesslich im Keller eines Hostels, in dem sich glamouröse Drag Queens, Diskomädchen und schöne Jungs zu 80er-Synthie-Sounds winden und zwei argentinische Lederkerle abwechselnd mit Dani Umpi ins Mikro schreien. Irgendwie komme ich dem Manager näher, wache aber dann doch gerädert im Hotelbett auf und taste blind nach dem Paracetamol.
Auf dem Flohmarkt kauft Dani beinahe ein Glitzerkleid, der Manager nimmt verstohlen meine Hand. Die Sonne scheint, die Palmen wiegen sich und im alten Markt gibts Fleisch vom Grill. Die Lederjungs vom Vorabend schlendern vorbei, ohne Schminke sehen sie grundsolide aus, sie sind seit 15 Jahren zusammen und nennen sich "DJ Pärchen". Wir fahren mit einer Geisterbahn, die noch nicht mal die Kinder erschreckt und kucken beim Manager zuhause die durchgeknallten Videos des Künstlers, der ab und zu kichern muss über seine eigenen Bühnen-Extravaganzen.

Wenn der Manager aus seinem Wohnzimmerfenster schaut, sieht er von hinten die Statue der Meeresgöttin, die mit ausgebreiteten Armen aus einer Muschel steigt. Eine sehr weltliche Gottheit: Man darf sie um alles mögliche bitten, nur nicht um einen Mann oder eine Frau. Da wird sie böse: die Männer will sie ganz für sich und mit den Frauen hat sie's nicht besonders.

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